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Konzept inyib von Kirsten Reese

für neun Instrumente, Live-Elektronik, Zuspiel (6 Spuren), 15 Lautsprecher
Software Live-Elektronik: Thomas Seelig
Uraufführung am 6. 7. 2002 im Podewil Berlin mit dem Ensemble Zeitkratzer


Setup

Bei der Aufführung sitzen die Musiker im Raum verteilt. Jeder Musiker spielt die in der Partitur notierten Klänge live. Jeweils drei Musiker sind mit einem Computer verbunden, und jeder Musiker hat einen eigenen live-elektronischen Effektweg und einen eigenen Lautsprecher, aus dem seine Sounds erklingen. Die Effekte werden über Presets vom Computer automatisch abgerufen. Die Instrumentalklänge werden nach einer Partitur gespielt. Sie wurden von der Komponistin aus den Klängen ausgewählt, die die Musiker ihr schickten. Den Klängen wurden über 60 verschiedene elektronische Effekte zugeordnet, die für das Stück entwickelt wurden. Die Effekte wurden von Thomas Seelig in MAX/MSP programmiert.

Einige Zeitkratzer- Musiker wurde im Vorfeld der Komposition gebeten, nach einer Liste Sounds - Instrumentalklänge und O-Töne - aufzunehmen.
Die Liste umfasste 16 Instrumentalklänge: tiefe, mittlere und hohe Töne in verschiedenen Varianten, und Spezialklänge (geräuschhafte oder mit besonderen Spieltechniken hervorgebrachte Sounds). Welche Töne oder Klänge die Musiker dann konkret aufnahmen (die genaue Tönhöhe und –dauer usw.), war nicht vorgeschrieben. Besonders durch die Wahl der Spezialklänge bekamen die Sounds die persönliche Färbung des jeweiligen Musikers. Aus den Instrumentalklängen traf ich eine Auswahl von Sounds, denen ich live-elektronische Effekte zuordnete.

Die Liste der Klänge, die die Musiker schicken sollten, umfasste auch O-Töne aus dem Alltag der Musiker aus drei verschiedenen Bereichen: persönliche Alltagsgeräusche, Klänge aus der lokalen Umgebung und Medienmitschnitte.
Bei der Aufführung von inyib gibt es neben den neun Lautsprechern der Musiker sechs weitere im Raum verteilte Lautsprecher, aus denen CDs mit den elektronisch bearbeiteten O-Tönen erklingen. Neben den von den Musikern geschickten O-Tönen wurden Sounds aus dem Internet verwendet, die über das Eingeben der Namen der Musiker in Suchmaschinen gefunden wurden.

Auf den Bildschirmen der drei Computer erscheinen Webseiten der "Netz-alter-egos" der Musiker, die sich mit dem Wechsel der Effektpresets weiterschalten.

Die Zuhörer können sich im Raum bewegen.


Hintergrund

inyib greift Aspekte von Internetmusik/ vernetzter Musik auf - auch wenn technisch keine Vernetzung, weder mit dem Internet noch zwischen den Computern, stattfindet.
Ausgangspunkt waren Überlegungen zu „Netzmusik“ - was könnte das charakteristische einer Musik im Medium Internet sein, wie könnte man sie qualitativ bestimmen: sollte man von klingenden Resultaten, oder von Prozessen (weltweite Vernetzung, Kommunikation, Partizipation, Hochladen und Downloaden von Klängen, Austausch von Klangdateien, usw.) ausgehen? Von den Soundprojekten im Internet, die ich kannte, schienen mir zwei Ansätze am interessantesten: Projekte, die im Internet verfügbare Soundfiles nach Zufallsprinzipien zusammensuchen und zusammenstellen; und O-Ton Kollektionen, bei denen Menschen von überall auf der Welt Sounds hochladen können (z.B. www.worldtune.com). Den Usern gestatten sie ein kurzes Hineinhören in Klangausschnitte aus weit voneinander entfernten Gegenden der Welt, trotz großer Heterogenität stehen die Klänge gleichberechtigt nebeneinander.
Statt den Versuch zu machen, eine ‚Internetmusik’ zu komponieren, entschied ich mich, in meiner Komposition Aspekte von Vernetzung aufzugreifen – insbesondere dadurch, dass die Musiker Klängen an den Orten aufnahmen, wo sie sich befanden, und sie mir sendeten – und das Medium Internet für das Finden von Teilen des Klangmaterials und durch die visuelle Einbindung von Webseiten zu benutzen.
Eine weitere Ausgangsidee für die Komposition war, das Zeitkratzer Ensemble in lose Gruppierungen von Einzelmusikern aufzubrechen und die Musik aus vielen kleinen im Raum verteilten Lautsprechern (also aus getrennten Klangquellen statt über eine Stereosumme) erklingen zu lassen.
Durch die Raumaufteilung und die Tatsache, dass mir die Musiker ihre Sounds schickten (und durch die visuelle Darstellung ihrer Netz-Alter-Egos), sollten die Musiker auch als Personen vorkommen. Die Instrumentalklänge haben eine individuelle Färbung, ohne „expressiv“ zu sein oder eine Selbstdarstellung herauszufordern (wie es oft der Fall ist, wenn beispielsweise die Komposition Freiräume für Improvisation lässt). Weil die Klänge nach einer Liste aufgenommen wurden und höchstens eine Minute lang sein sollten, wurden sie quasi in fragmentierter, neutraler Form an mich übermittelt.

Ebenso unspektakulär wie die Instrumentalklänge sind die O-Töne, die mir die Musiker schickten:
Alltagsgeräusche Jeder Mensch hinterlässt jeden Tag beim Verrichten von Alltagstätigkeiten ähnliche Klangspuren. Die leise Geschäftigkeit beim Herumhantieren in der Wohnung, bei Arbeiten in der Küche, am Schreibtisch, hat ein rhythmisches Moment, eine ‚unregelmäßige Regelmäßigkeit’, die mich musikalisch interessierte. Diese Klänge haben eine Intimität (z.B. Geräusche beim Zähneputzen oder bei gelegentlichem kaum hörbaren Atmen) - wie beim Hineinhören in O-Töne aus dem Internet ist es manchmal, als ob man jemanden belauscht.
O-Töne aus dem lokalen Umfeld Mit den O-Tönen aus der lokalen Umgebung erweitert sich der Horizont vom Privaten in den öffentlichen Raum. Das Klangmaterial ist dichter, geschäftiger, aber ebenfalls unspektakulär. Hinsichtlich der Orte der Aufnahmen, die mir geschickt wurden, gab es Dopplungen: Supermarkt, Café, Strasse, Natur - jeder Mensch begegnet im Alltag ähnlichen Klangsituationen. Dennoch gibt es auch hier eine Färbung, eine Variation des Ähnlichen (z.B. durch die Sprache, die auf den Aufnahmen vorkommt, je nachdem in welchem Land die Klänge aufgenommen wurden - ein Zeitkratzer Musiker kommt aus Italien, einer aus Österreich) und gelegentlich ereignen sich interessante, aufhorchend machende Momente.
Medienmitschnitte Die Medienausschnitte sollten den Horizont noch weiter öffnen, ein Bewusstsein dafür hervorrufen, ‚dass da noch etwas ist in der Welt’.
Die Medienausschnitte, die die Zeitkratzer aufnahmen, waren mehr oder weniger zufällig ausgewählt (jedoch nicht im strengen Cageschen Sinn von Zufall, siehe unten). Sie waren daher - wie die anderen O-Töne - „nicht bedeutsam“ (in Nachrichtenclips kamen einmal der Nahostkonflikt vor, einmal ein Gespräch mit der Bildungskommissarin der EU über Pisa; aber genauso gab es banale Talkshowausschnitte, über’s Handy abgerufene Meldungen des ADAC Staudienstes, Spielfilmsequenzen, usw....). Der amerikanische Komponist Robert Ashley bezieht sich in seinem Stück Automatic Writing (CD Lovely Music CD 1002) auf „involuntary speech“, auf die unfreiwillige Rede, die Menschen mit Tourette Syndrom automatisch hervorbringen. In diesem Sinn hat jeder Medienausschnitt ein „unfreiwilliges“ - unbeabsichtigtes - Sprechendes in sich (auf die oben genannten Beispiele bezogen hieße das: Staudienst - Verkehrskollaps, gewaltbetonte Geschlechterverhältnisse im Fernsehfilm, ungleiche Bildungschancen,...).
Es schwingt also doch eine Bedeutung mit, die aber im Hintergrund bleibt, da die O-Töne und Medienmitschnitte nicht eins zu eins verwendet, sondern elektronisch bearbeitet und verfremdet wurden. Sie sind für die Zuhörer während der Aufführung nur zu einem geringen Teil entschlüsselbar. Hinzu kommt, dass das Stück mit seinen 15 Kanälen teilweise sehr dicht ist. Mir kam es darauf an, ein Gefühl zu vermitteln, dass es eine tiefere Schicht gibt, ein ‚undercurrent’ an Assoziationen und Vernetzungen, in die man sich ‚einloggen’ kann, um sie zu entschlüsseln und sinnvolle Verbindungen herzustellen.

Kompositorisches/ Soundbearbeitung/ Effekte Die Klangbearbeitung der Sounds ist unterschiedlich stark (z.B. ist bei Sprachinhalten manchmal fast alles verständlich, manchmal nichts, man hört nur noch die Modulationen der Stimme im bearbeiteten Klang). Die Art der gewählten Effekte unterstreicht den Aspekt der Vernetzung in einen unendlichen Raum: durch Delays entstehen Wiederholungen, Loops, die mehr und mehr ins Nichts verschwinden; Halleffekte erweitern den Raum künstlich (z.B. bei Aufnahmen vom Arbeiten am Schreibtisch mit Computersurren im Hintergrund, oder vom Supermarkt mit piependen Kassen). Auch die Instrumentalstimmen und ihre live-elektronische Bearbeitung sind auf ‚Resonanz’ angelegt. Die Instrumente spielen oft kurze Samples eines Klanges, die mit fortschreitend changierenden Effekten wiederholt werden. Delays funktionieren quasi als eine Antwort des Lautsprechers auf das, was das Instrument äußert. Die Resonanz passiert auch im Aufführungsraum zwischen den Instrumenten und Lautsprechern untereinander, die Hörer können die Klänge aufeinander beziehen (auch wenn sie in keinem Zusammenhang stehen).

Internetsounds Neben den Medienklängen, die mir die Zeitkratzer schickten, verwendete ich Soundfiles aus dem Internet, die ich über das Eingeben der Namen der Musiker in Suchmaschinen fand. Weil die Möglichkeiten der Suchabfragen für Sounds nur sehr begrenzt sind (überwiegend findet man Popsongs, die ich nicht verwenden wollte), waren die Ergebnisse besonders erratisch (z.B. Klänge von Käfern, deren Stimminstrumente „scraper“ heißen), bis dahin, dass sich der Zusammenhang gar nicht nachvollziehen ließ (über die Eingabe von „Luca“ erschien eine Site mit den Funksignalen einer sogenannten „counting station“ der U.S. Armee in der Nähe von Frankfurt: eine weibliche Stimme spricht unterbrochen von Piepssignalen eine sich ständig ändernde Nummernfolge).





Zufall Für das Konzept von inyib spielte ‚Zufall’ eine wichtige Rolle, wobei es eine Ambivalenz gibt zwischen der ‚Bedeutung’ der Klänge - „alles spricht“ - und ihrer zufälligen Auswahl. (Dabei ist dies nur ein scheinbarer Widerspruch: es gibt Kulturen, in denen der Begriff „Zufall“ so nicht existiert, weil alles als in einem Zusammenhang stehend gesehen wird). Ich begreife „Zufall“ im Sinne des englischen Begriffs „coincidence“ im Gegensatz zu „chance“ (seit Cage ein wichtiger Begriff in der zeitgenössischen Musik, „chance“ ist aber im Gegensatz zu „coincidence“ ein strenges Konzept).

Visuelles: Webseiten von alter egos Die Zuhörer sollten sich während der Aufführung von inyib im Raum bewegen können, um sich ihre Hörposition zu den Klängen selbst zu suchen, den Musikern über die Schulter zu gucken, quasi in den intimen Bereich einzutreten. Das Publikum kann sich den Computern - den vermeintlichen Steuerzentralen des Geschehens – nähern und die Bildschirme ansehen (anders als z.B. bei den meistens Laptop Konzerten, wo der Musiker frontal zum Publikum sitzt und kaum eine Miene verzieht).
Auf den Bildschirmen erscheinen die Webseiten der Netz-alter-egos der Musiker: ich habe die Namen der Musiker in Suchmaschinen eingegeben, aber nur die Sites verwendet, die von anderen Menschen gleichen Namens handelten. So kommen wieder zufällige, unsinnige Verknüpfungen zustande. Es öffnet sich der beschränkte Horizont davon, wer wir sind und womit wir uns beschäftigen, zu dem – vielleicht ebenso beschränkten – mit dem sich andere Menschen auf der Welt beschäftigen (z.B. die amerikanische Bildhauerin Kirsten Reese, oder der politisch engagierte Sozialwissenschaftler Reinhold Friedl in Hamburg, oder der Modellsportflieger Ulrich Krieger). Das Banale ist das aussagekräftige, das Assoziationen eröffnet.






Die Webseiten, auf die ich durch das Namensaustauschspiel gestoßen bin, blieben allerdings meistens innerhalb des westlichen Kulturkreises. Beim Eingeben von „scraper“ (vom Namen des Ensembles Zeitkratzer, Timescraper, abgeleitet) war das anders: ‚scraper’ ist (neben dem oben erwähnten Lautwerkzeug der Käfer) ein Oberbegriff für ein steinzeitliches Werkzeug, daher erschienen viele Seiten mit archeologischen Themen aus allen Gebieten der Welt. Und die Assoziationen – hämmern, kratzen, schlagen: unregelmäßig regelmäßige Geräusche – passten gut zum Klangbild der Komposition.
Auf eine dieser Webseiten bin ich auf „inyib“ gestoßen, ein Aboriginal Wort aus dem Nordosten Australiens für „scraper“.
Umgekehrt habe ich beim Suchen nach „inyib“ in Suchmaschinen entweder keinen Eintrag gefunden, oder, bei einer Suchmaschine, nur genau drei URLs: eine Internetseite „URL not found“; die Internetseite mit dem nordaustralischen Wörterbuch, auf der ich „inyib“ ursprünglich entdeckt hatte; und ein Foto von einem alten Synthesizer aus den sechziger Jahren, ohne jeglichen Text oder Zusammenhang...